Albtraum statt Erholung – Landesarchiv legt Ergebnisse zur Kinderverschickung vor
Für viele Mädchen und Jungen wurden die Kinderkuren, die von Ende der 1940er bis in die 1990er Jahre angeboten wurden, zum Albtraum. Die Projektgruppe "Aufarbeitung Kinderverschickung" des Landesarchivs Baden-Württemberg hat Betroffene bei der Aufarbeitung ihrer Geschichte unterstützt und zugleich Grundlagen für eine vertiefende Forschung geschaffen. Am Dienstag, 1. Oktober 2024, hat sie in Stuttgart ihren Abschlussbericht vorgestellt.
Mehrere Millionen Kinder in Deutschland wurden in den Nachkriegsjahrzehnten in sogenannte Kinderkuren geschickt. Doch nicht alle fanden während der sechswöchigen Aufenthalte die versprochene Erholung und Genesung. Viele Kinder und Jugendliche kehrten traumatisiert aus den Kur- und Erholungsheimen nach Hause zurück. Der erste Schock war für viele die lange und oft unverständliche Trennung von den Eltern - Besuche und Telefongespräche waren unerwünscht, Briefe wurden zensiert. In vielen Heimen herrschte eine strenge und lieblose Atmosphäre. Betroffene berichten von vielfältigen Formen von Gewalt und Vernachlässigung: Schlägen, Essenszwang, Kollektivstrafen, Beschämung, sexualisierter Gewalt, missbräuchlicher oder unerlaubter Gabe von Medikamenten und mehr.
Diese Vorfälle blieben lange im Verborgenen. Nachdem einige Jahre lang die Missstände in Einrichtungen der Jugend- und der Behindertenhilfe im Vordergrund standen, berichteten zunehmend auch ehemalige Verschickungskinder von vergleichbaren Missständen. Damit rückten die teilweise unzumutbaren Zustände in den Kur- und Erholungseinrichtungen ins Blickfeld der Öffentlichkeit. Seit Mai 2022 hat das Landesarchiv in enger Zusammenarbeit mit Betroffenen und dem Runden Tisch des Sozialministeriums die Diskussion, Forschung und Aufarbeitung der Kinderverschickung begleitet. „Viele Betroffene weisen zu Recht auf strukturelle Mängel hin wie die fehlende Entnazifizierung in den Erholungsheimen und die teilweise weit über den damaligen Zeitgeist hinausgehende Gewalt in verschiedensten Formen. Die Erinnerungen, das Wissen und auch die geleistete Recherchearbeit der Betroffenen ist entscheidend dafür, dem Thema die angemessene Aufmerksamkeit zu verschaffen“, sagte Prof. Dr. Gerald Maier, Präsident des Landesarchivs bei der Abschlusstagung am Dienstag in Stuttgart. Rund 160 Vertreterinnen und Vertretern aus Wissenschaft, Archiven, Behörden, Trägereinrichtungen sowie Betroffene diskutierten dort über den Stand der Aufarbeitung und darüber, welche weiteren Schritte noch nötig sind.
Das Projektteam Kinderverschickung führte für etwa 100 Betroffene individuelle Recherchen durch. Aufgrund der Aktenlage war es nur selten möglich, personenbezogene Unterlagen etwa der einweisenden Arztpraxen oder von Krankenkassen zu ermitteln. In manchen Fällen ließ sich jedoch klären, wo die Betroffenen untergebracht waren. Zugleich bot die Recherche die Möglichkeit, die hinter der Verschickung stehenden Verwaltungsprozesse zu erforschen. Dank der Akten ließ sich unter anderem das Weiterwirken nationalsozialistischen Gedankenguts erkennen und die Finanzierung und die Struktur der Kinderverschickung genauer beleuchten. „Es gehört zur Demokratie, dass wir uns unserer Vergangenheit stellen, sie anerkennen und daraus lernen. Das Projekt zur Kinderverschickung ist dazu ein wichtiger Baustein, da ihre Folgen das Leben sehr vieler Menschen bis heute prägen“, sagte Prof. Dr. Christian Keitel, Projektleiter und stellvertretender Leiter der Abteilung Archivischer Grundsatz.
Die verhältnismäßig kurzen Aufenthalte in Verbindung mit den hohen Kosten der Heime führten vermutlich zu einer permanenten Stimulierung der Nachfrage nach solchen Aufenthalten. Nur gut ausgelastete Heime waren auch halbwegs rentabel. Bis in die 1970er Jahre stieg die Zahl der Kinder, denen eine Erholung verordnet wurde, stetig. Genaue Daten liegen bisher allerdings nicht vor. Experten schätzen die Gesamtzahl der Verschickungskinder bundesweit auf acht bis zwölf Millionen.
Das vom Projektteam erstellte Verzeichnis der Kinderkurheime in Baden-Württemberg zwischen 1949 und 1980 umfasst rund 470 Einrichtungen. Ein Großteil befand sich im Schwarzwald – allein im heutigen Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald gab es 49, im Schwarzwald-Baar-Kreis 56 Heime. Die Mehrzahl der Einrichtungen war in privater Hand. 212 der Heime wurden durch Einzelpersonen geführt, knapp 50 durch Vereine. Rund 120 Heime waren in kirchlicher Trägerschaft (Diakonie, Caritas, Innere Mission) sowie von Orden. Weitere relevante Träger waren die Arbeiterwohlfahrt (26) und das Deutsche Rote Kreuz (17). 28 Einrichtungen waren in der Trägerschaft von Landkreisen oder Städten. In gut 50 Fällen ist die Trägerschaft unbekannt. Das Verzeichnis enthält die bisher vorhandenen Informationen und gibt Hinweise zu weiteren möglichen Informationsquellen. Es bewertet die einzelnen Einrichtungen allerdings nicht – dafür wäre weitere Recherche notwendig. Ein vom Landesarchiv und den kommunalen Archiven beantragtes Moratorium stellt sicher, dass die Behörden bis Ende 2025 keine Unterlagen vernichten, die einen Bezug zum Thema Verschickung aufweisen, aber von Archiven nicht übernommen werden können. Denn eine Übernahme von Unterlagen ist nur in Auswahl von den Archiven zu leisten.
Zudem erstellte das Projektteam einen Rechercheführer, der es Betroffenen, Forschenden und anderen Interessierten erleichtert, mehr über die Kinderverschickung in Erfahrung zu bringen. „Wir würden uns wünschen, dass das Ende des Projekts Kinderverschickung eher als Zwischenstand, denn als Fazit eines Aufarbeitungsprozesses verstanden wird, dass die Betroffenen weiterhin die gesellschaftliche Aufmerksamkeit bekommen, die sie und diese Themen verdienen, und dass auch weiterhin finanzielle Mittel zur besseren Erforschung dieses Themenkomplexes bereitgestellt werden“, sagt Projektmitarbeiterin Corinna Keunecke.
Die Ausstellung „Freude und Erholung – Kinderverschickung in Baden-Württemberg 1949 – 1980“ gibt einen Überblick über den aktuellen Wissensstand zur Kinderverschickung. Gezeigt werden dort außerdem Comics von Birgit Weyhe. Die Künstlerin stellt in ihren Bildern exemplarisch Szenen dar, die von vielen ehemaligen Verschickungskindern in ähnlicher Form geschildert wurden. Die Ausstellung ist vom 4. Oktober bis zum 6. Dezember im Hauptstaatsarchiv Stuttgart zu sehen.
Baden-Württembergs Sozialminister Manfred Lucha hob in einer Videobotschaft die herausragende Bedeutung des Projekts hervor. „Betroffene konnten zwischenzeitlich verschüttete Puzzleteile ihrer Lebensgeschichte wieder auffinden und diese wenigstens besser verstehen. Sie haben damit Leid gelindert, Menschen geholfen und gleichzeitig einen entscheidenden Beitrag in der Aufarbeitung der Kinderverschickung geleistet.“ Gleichzeitig sei damit die Grundlage für weitere Forschung gelegt worden.
Das Projekt Kinderverschickung schließt an zwei vorausgegangene Forschungsprojekte an, die sich der Heimerziehung widmeten. 2012 startete die Aufarbeitung der „Heimerziehung zwischen 1949 und 1975 in Baden-Württemberg“. Betroffene erhielten umfangreiche und kostenlose Unterstützung bei der Recherche zu ihrer Kindheit in einem Heim. Ab 2019 wurde mit dem Dokumentationsprojekt Zwangsunterbringung der Schwerpunkt auf Einrichtungen der Behindertenhilfe und der Psychiatrie gelegt. Die dadurch gewonnenen Erkenntnisse flossen in die Erforschung der Kinderverschickung in Baden-Württemberg ein.
Information
Das Projekt „Verschickungskinder – archivische Aufarbeitung als Basis für Forschung und Biografierecherchen“ startete am 1. Mai 2022 und endet am 31. Oktober 2024. Es wurde vom Sozialministerium Baden-Württemberg initiiert und von der Baden-Württemberg Stiftung gefördert.
Die Ergebnisse sind in dem Band „Freude und Erholung? Kinderverschickung in Baden-Württemberg 1949 – 1980“ zusammengefasst (herausgegeben von Christian Keitel, Corinna Keunecke und Johanna Weiler unter Mitarbeit von Sina Fritsche und Nora Wohlfarth). Er ist im Jan Thorbecke Verlag Stuttgart erschienen, hat 188 Seiten und kostet 18 Euro.
Rechercheführer
Ausstellungsseite
Weitere Informationen zu Heimkindheiten auf dem landeskundlichen Informationssystem LEO-BW.