In Deutschland waren die nationalsozialistischen Machthaber von großen Teilen der deutschen Bevölkerung toleriert, wenn nicht unterstützt worden. Jeder sechste erwachsene Deutsche gehörte einer NS-Organisation an, wobei der Anteil in den jüngeren Jahrgängen noch wesentlich höher war. Allein die NSDAP-Kartei führte am Ende des Krieges mehr als 6,5 Millionen Mitglieder. Die Folgen sind bekannt: Der vom nationalsozialistischen Deutschland ausgehende Zweite Weltkrieg forderte ca. 55 Millionen Menschenleben.
Die auf der Potsdamer Konferenz (17. Juli bis 2. August 1945) von den alliierten Siegermächten beschlossene "Entnazifizierung" wurde nach der Kapitulation Deutschlands in umfassender Weise angegangen. Neben der vollständigen Ausmerzung des Militarismus waren das Verbot der NSDAP und aller ihrer Unterorganisationen, die Aufhebung aller NS-Gesetze sowie die Beseitigung von einschlägigen Erinnerungen an das "Dritte Reich" aus der Öffentlichkeit (NS-Symbole, Straßenschilder, Bücher, Uniformen, Orden usw.) wesentliche Elemente dieser politischen Säuberung. Auch das Säubern des öffentlichen Dienstes und der automatische Arrest für bestimmte Personengruppen aus der Verwaltungs- und NS-Hierarchie (d.h. Internierung auf Grund formaler Kriterien ohne Prüfung des Einzelfalls) war bereits vorgesehen. Gegen die Spitzen des NS-Regimes wurde seit dem 20. November 1945 vor dem Internationalen Militärtribunal in Nürnberg verhandelt ("Nürnberger Prozesse").
Bei der zunächst engagierten, sehr systematischen Entnazifizierung in der amerikanisch besetzten Zone, von der im Prinzip jeder hier lebende erwachsene Deutsche betroffen war, lassen sich verschiedene Phasen unterscheiden: Eine Direktive vom 7. Juli 1945 bezog sich zunächst auf Personen in Schlüsselpositionen des öffentlichen Lebens. Gesetz Nr. 8 der Militärregierung vom 26. September 1945 dehnte die Säuberungsmaßnahmen auf die Wirtschaft aus. Grundlage war ein 131 Fragen umfassender Fragebogen, der von den Betroffenen auszufüllen war, und der die Grundlage für eine Einstufung in eine von fünf Gruppen war. Von Sühnemaßnahmen betroffen waren etwa jene, die vor dem 1. März 1933 in die NSDAP eingetreten waren. Beamte, die Mitglied der Partei oder einer Unterorganisation gewesen waren, wurden aus dem öffentlichen Dienst entlassen. Hauptschuldigen und Belasteten drohte nicht nur Entlassung und Berufsverbot, sondern auch eine Höchststrafe von bis zu zehn Jahren Arbeitslager.
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Eine Einführung in die Spruchkammerbestände im Staatsarchiv Ludwigsburg
Spruchkammerakten im Staatsarchiv Ludwigsburg
Vom einfachen Mitläufer bis zum Hauptschuldigen können unzählige Schicksale durch die Akten rekonstruiert oder wenigstens teilweise ausgeleuchtet werden, denn Spruchkammerakten beinhalten zahllose, anderweitig nicht überlieferte Originaldokumente aus der NS-Zeit. Zusammen mit den Zeugenaussagen und Beurteilungen aus der Sicht der Nachkriegszeit bilden die Akten eine Überlieferung höchst unterschiedlichen Materials, das vielfältige schillernde Einblicke in die Zeit von 1933 bis 1953 ermöglicht.
Die Beständeserie EL 900 im Staatsarchiv Ludwigsburg
Die Spruchkammerakten bieten sich besonders für Personen- und familiengeschichtliche Recherchen an, d.h. wer z.B. mehr über die Vergangenheit seiner Eltern oder Großeltern in der Zeit von 1933—1945 erfahren möchte, kann im Archiv nach diesen Akten suchen und sie sich bestellen. Historiker und Heimatforscher nutzen Akten aus dem Archiv, um die Geschichte einzelner Orte oder Stadtteile zu schreiben.
Interessierte der Geschlechtergeschichte werden im Staatsarchiv Ludwigsburg ebenfalls fündig werden: Unter den ca. 500 000 Spruchkammerakten finden sich sowohl Akten von Frauen wie auch von Männern. Es lassen sich daher verbreitete Verhaltensmuster der Geschlechter sowie die dann sichtbaren Abweichungen davon herausarbeiten.
Auch in der Mentalitätsgeschichte bieten diese Akten ein weites Untersuchungsfeld. Gerade in den Spruchkammerakten lassen sich die bis 1945 geltenden Einstellungen und Werte gut mit denen der neuen Zeit vergleichen.
Anfänge der Entnazifizierung
Winston Churchill, Harry S. Truman und Josef Stalin reichen sich die Hand
Der Meldebogen — eine Maßnahme zur Entnazifizierung?
Vorder- und Rückseite des Fragebogens der Militärregierung zur Entnazifizierung der deutschen Bevölkerung Am 5. März 1946 wurde in den Ländern der US-Zone das "Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus" verabschiedet, welches die Entnazifizierung in die Hände der Deutschen legte. In der US-Zone wurden dazu regional zuständige Laiengerichte gebildet, die so genannten Spruchkammern, die jeden Fall individuell zu behandeln hatten. Jeder Deutsche, der am 4. März 1945 das 18. Lebensjahr vollendet hatte, musste dazu einen (vom Umfang her wesentlich reduzierten) Meldebogen ausfüllen, damit geprüft werden konnte, ob er unter das Gesetz fällt und in welchem Umfang er sich im nationalsozialistischen Sinne betätigt hatte. Danach wurde er in eine von fünf Kategorien eingestuft:
I. Hauptschuldiger,
II. Belasteter,
III. Minderbelasteter,
IV. Mitläufer,
V. Entlasteter
Die Einstufung war — mit Ausnahme der Kategorie V — mit entsprechenden Sanktionen versehen, die von einfachen Geldstrafen bis hin zur Haft im Arbeitslager reichten. Die Spruchkammern waren auf Grund der Menge an Meldebögen ständig überlastet. Die Auswertung der 13 Millionen abgegeben Bögen blockierte monatelang die eigentliche Arbeit der Spruchkammern und für eine intensive Bearbeitung eines schweren Falles blieb kaum Zeit. Zudem wurden erst die leichteren Fälle bearbeitet, da dort die Beweislage eindeutiger schien und vor allen Dingen die Masse der von den Amerikanern entlassenen Mitläufer auf eine rasche Wiedereinstellung hoffte. So passierte es, dass die komplizierten, schweren Fälle erst später bearbeitet wurden und die Betroffenen aufgrund einer veränderten weltpolitischen Lage milder behandelt wurden. Diese Praxis erregte allgemein großen Unmut. In einer Umfrage im Jahre 1949 sprachen sich mehr als 70 % der Bevölkerung gegen Entnazifizierung aus.
Der beginnende Kalte Krieg ließ die Entnazifizierung lange vor ihrem Ende endgültig erstarren. Die Kammern stellten zum 31. Oktober 1953 ihre Tätigkeit ein, nachdem schon ab Ende Juli 1953 neue Verfahren gar nicht mehr eröffnet worden waren.
Einsicht und Erschließung der Spruchkammerakten
Ein Mitarbeiter beim Verpacken der Spruchkammerakten Einsicht in die Akten wurde nach der Schließung der Spruchkammern nur Behörden und Gerichten gewährt. Auch die Betroffenen selbst konnten keine Einsicht, nur Auskunft erhalten, und auch das nur, wenn sie ein rechtliches Interesse glaubhaft machen konnten. Der Forschung waren die Spruchkammerakten somit fast 40 Jahre verschlossen. Erst mit dem Gesetz vom 12. März 1990 zur Änderung des Landesarchivgesetzes vom 27. Juli 1987 sind die Akten unter Beachtung der allgemeinen Sperrfristen für Wissenschaft und Öffentlichkeit zugänglich.
Im Ludwigsburger Staatsarchiv, das für den Regierungsbezirk Stuttgart zuständig ist, liegen etwa 500.000 Spruchkammerakten. Sie belegen rund einen Kilometer Regalfläche. Viele Jahre arbeiteten Mitarbeiter des Archivs, die zum Teil mit Zuschüssen der Agentur für Arbeit finanziert wurden, an der Erschließung dieses Bestandes.
Zu Anfang waren die Akten nur unzureichend durch Karteikarten der Spruchkammern selbst erschlossen, so dass sich die Suche nach einer bestimmten Person umständlich und zeitaufwendig gestaltete. Die Dokumente selbst waren in konservatorischer Hinsicht in gefährdetem Zustand; deshalb wurden metallische Teile wie Büroklammern und Heftzwecken vollständig entfernt. Die lose gelagerten Dokumente wurden geordnet, in Umschläge aus säurefreiem Papier verpackt und in spezielle Archivboxen gelegt.
Das Ziel war, jede Spruchkammerakte digital zu erfassen und zu erschließen um so dem Nutzer einen einfachen Zugang zu verschaffen. So flossen Name, Beruf, Geburtsdatum und -ort sowie der Wohnort jedes Betroffenen zum Zeitpunkt des jeweiligen Verfahrens zusammen mit der Signatur seiner Akte in eine stetig wachsende Datenbank. Seit 2008 sind nun alle ca. 500.000 Posten erfasst und recherchierbar.
Zum schnellen Suchergebnis führt die Eingabe der Suchparameter in die Volltextsuche.
Aufbau der Spruchkammerakten
Verpackung einer Spruchkammerakte Eine Spruchkammerakte ist meist nach derselben Grundstruktur aufgebaut. Im Allgemeinen sind enthalten (Vollständigkeit nicht zwingend):
1. Inhaltsverzeichnis
2. Meldebogen
3. Arbeitsblätter
4. Unterlagen zur Verfahrensabwicklung
5. Protokolle
6. Beurteilungen über den Angeklagten
7. Spruchkammerentscheid ("Spruch")
8. Sühnebescheid
Einen ersten Überblick ermöglichen der Meldebogen und der Entscheid der Spruchkammer. Die Beurteilungen und auch manche Zeugenaussagen enthalten unter Umständen parteiische, subjektiv gefasste Angaben. Zumeist sind die Dokumente chronologisch sortiert. Einige Akten scheinen auf den ersten Blick jedoch auch unsortiert. Auf jeden Fall sollte die vorgegebene Ordnung bei der Benutzung nicht geändert werden.
Der exemplarische Fall Wilhelm Emmerich
Eine Zeichnung des Vorfalls Im Jahr 1949 wurde ein Entnazifizierungsverfahren gegen den bereits am 22. Mai 1945 an Typhus verstorbenen SS-Oberscharführer Wilhelm Emmerich durchgeführt. Auch gegen bereits Verstorbene konnte ein Spruchkammerverfahren durchgeführt werden.
Eine Einstufung als Hauptschuldiger ‐ wie Wilhelm Emmerich — oder Belasteter hatte den Wegfall der Ansprüche von Hinterbliebenen auf Pensionen oder Renten des Betroffenen zur Folge. Hauptschuldiger war, wer sich in einem Konzentrationslager an Tötungen, Folterungen oder sonstigen Grausamkeiten in irgendeiner Form beteiligt hatte.
Das Ministerium für politische Befreiung Baden-Württemberg war zunächst auf Grund seiner im wesentlichen auf die Auskünfte der Witwe Wilhelm Emmerichs gestützten Ermittlungen zu dem Ergebnis gekommen, der verstorbene SS-Oberscharführer komme nicht als Hauptschuldiger oder Belasteter in Frage. Erst die Aussage eines ehemaligen Fellbacher Häftlings aus Auschwitz führte zur Neuaufnahme der Untersuchungen. Weitere Zeugenaussagen, die dem Betroffenen besondere Brutalität und Rücksichtslosigkeit sowie zügellosen Sadismus attestierten, erwiesen schließlich Emmerichs Einbindung in die Mordmaschinerie von Auschwitz und führten zu seiner Einstufung als Hauptschuldiger und nicht als Mitläufer, wie die Witwe vorgeschlagen hatte.
Wilhelm Emmerich konnte zudem als einer der SS-Männer identifiziert werden, die am 23. Oktober 1943 im Entkleidungsraum eines Krematoriums des Konzentrationslagers in Auschwitz von einer Jüdin angeschossen worden waren. Dieser dokumentierte bewaffnete Widerstand wurde rasch zum Mythos. Zwar sind weder Name noch Nationalität dieser angeblichen Tänzerin bisher eindeutig gesichert, doch die Tatsache, dass sie angesichts ihres bevorstehenden Todes den SS-Oberscharführer Josef Schillinger mit seiner eigenen Pistole töten und Emmerich verwunden konnte, wirkt als einzigartiges Ereignis über sie hinaus.
Emmerich war zwar mit dem Leben davon gekommen, hatte aber von dem Durchschuss ein halbsteifes Bein zurückbehalten.
Spruchkammerakten online
Im Zeughaus werden auch die Spruchkammerakten verwahrt Nachdem die Verzeichnung der fast 500.000 Entnazifizierungsakten im Staatsarchiv Ludwigsburg abgeschlossen worden ist, werden nunmehr die Teile der Findbücher, die keinen archivrechtlichen Sperrfristen mehr unterliegen, im Internet zugänglich gemacht. Im Online-Archivinformationssystem des Landesarchivs sind künftig die Akten derjenigen Personen, deren Geburtsdatum mindestens 110 Jahre zurückliegt, nachgewiesen.
Benutzer finden die Findbücher über die Verfahrensakten der verschiedenen Spruchkammern in der Liste der Online-Findbücher oder direkt in der Beständeübersicht unter den Beständen aus dem Ressort des Befreiungsministeriums. Ist die Spruchkammer, vor der der Fall verhandelt wurde, nicht bekannt, kann für Recherchen nach einer Akte auch die Gesamtsuche eingesetzt werden, wobei im Erweiterten oder Expertenmodus zweckmäßigerweise als Archivalientyp "Spruchkammerakte" markiert werden sollte.
Die ermittelten Akten können Sie danach mit Hilfe des elektronischen Bestellsystems zur Einsichtnahme in den Lesesaal bestellen. Sollten Sie eine Kopie der Akte wünschen sowie in allen Fällen, in denen Sie nicht fündig werden (z. B. weil das Geburtsdatum der gesuchten Person noch nicht 110 Jahre zurückliegt), wenden Sie sich bitte direkt an den Lesesaal des Staatsarchivs Ludwigsburg (Tel.: 07141/64854-6337 oder 64854-6338, E-Mail: staludwigsburg@la-bw.de).
Mit der Freischaltung der Findbücher wurde im Februar 2008 begonnen; alle frei recherchierbaren Spruchkammerakten finden Sie hier: Die Beständeserie EL 900 im Staatsarchiv Ludwigsburg
Angebote des Staatsarchivs Ludwigsburg
Der Lesesaal des Staatsarchivs Ludwigsburg Die Datenbank zur Recherche der Spruchkammerakten ist aus Datenschutzgründen nur in Teilen öffentlich zugänglich. Im Internet recherchierbar sind nur die Akten von Personen, die vor mehr als 110 Jahren geboren wurden. Wenn Sie nach einer Person suchen, die später geboren wurde, dann können Sie vor einem Besuch per E-Mail, telefonisch oder schriftlich anfragen, ob es eine Spruchkammerakte zu der Sie interessierenden Person gibt und diese auch in unserem Lesesaal bereitlegen lassen oder — gegen Kostenersatz — eine Kopie bzw. einen Scans der Akte anfertigen lassen. Es gibt die Möglichkeit einer Sperrfristverkürzung, für die man im Staatsarchiv Ludwigsburg einen Antrag stellen kann.
Für Mittel- und Oberstufenschüler sowie für interessierte Erwachsene bietet die Ludwigsburger Archivpädagogik das Modul "Entnazifizierung" an.
Impressum
Die hier vorgestellten Bilder und Texte wurden im Herbst und Winter 2005/2006 von Friederike Schön im Rahmen ihres freiwilligen kulturellen Jahrs im Staatsarchiv Ludwigsburg zusammengestellt.
Im Frühjahr 2016 wurde die Veröffentlichung grundlegend überarbeitet und dem aktuellen Stand der Akten angepasst.
Die Beispieldokumente stammen aus den Akten EL 902/17 Bü 3974 und EL 903/2 Bü 238.
Inhaltliche Konzeption, Texte und Exponatauswahl: Friederike Schön
Mitarbeit (Texte): Dr. Martin Häußermann, Dr. Christian Keitel, Dr. Stephan Molitor
Inhaltliche und visuelle Überarbeitung (2016): Vincent Lenk