I. Musik im Kloster
Musik im Kloster – das ist die gesungene Liturgie des Stundengebets und der Messe, der Gregorianische Choral. Es handelt sich also nicht um Musik als eigene Kunstform, über die man frei verfügen kann – jetzt möchte ich diese oder jene Musik hören (und das hieß früher: selbst musizieren, so gut man nur irgend vermag) –, sondern um eine allgemein gültige, im Tagesablauf und im Jahreskreis genau festgelegte Form des Gottesdienstes.
Die Mönche musizieren nicht, sondern vollziehen die Liturgie im Jahreskreislauf, und dabei wechseln Lesung, Gebet und Gesang in genau festgelegter Ordnung einander ab. Dabei stehen die Mönche, wie es in der Regel des heiligen Benedikt heißt, im Angesicht der Engel und sollen die Psalmen so singen, dass unser Herz im Einklang ist mit unserem Wort.
Der Mönch hatte den Choral im ganzen Umfang zu können, und wer beim Anstimmen eines Gesangs, der ihm aufgetragen wurde, einen Fehler machte, der musste bei Abt und Konvent um Verzeihung bitten.
Der Gregorianische Choral
Grundlage des Gottesdienstes sind die festen Texte der Liturgie, die auf drei Arten vorgetragen werden, als Lesung (lectio), als Gebet (oratio) und als Gesang (cantus). Zwei Gottesdienstformen sind zu unterscheiden, die Messe, ursprünglich der Gottesdienst einer Stadtgemeinde unter der Leitung des Bischofs, und das Stundengebet (Officium) einer Klostergemeinschaft. Dieses gliedert sich nach Psalm 118 (119) – zu Mitternacht stehe ich auf, dir zu danken – ich lobe dich des Tages siebenmal – in die Mette (nachts), die Laudes (morgens, möglichst bei Sonnenaufgang), die Kleinen Horen Prim, Terz, Sext und Non, die Vesper (abends) und die Complet vor der Nachtruhe. Die Spannweite des cantus reicht dabei von dem in directum (auf nur einem Ton) zu rezitierenden Psalm in der Complet bis zum ausgreifenden Sologesang des Graduale und des Alleluia in der Messe.
Gesänge für das Messproprium
Die Gesänge des Messpropriums (Introitus, Graduale, Alleluia, Tractus, Offertorium, Communio), die für jede Messfeier spezifisch sind, bilden den ältesten, sakrosankten und unveränderlich zu überliefernden Teil des Gregorianischen Chorals.
Dieses Repertoire wird dem Papst Gregor I. (590–604) zugeschrieben. Er habe, so heißt es in dem gedichteten Prolog zum normativen Gesangbuch, diese Gesänge, deren Worte süß (dicta dulcia) und deren Melodien großartig (modi egregii) seien, zusammengestellt und für die Liturgie des ganzen Kirchenjahres (per circulum anni) geordnet.
Gesänge für das Messordinarium
Zu den Stücken des Messordinariums (Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus, Agnus), die in jeder Messe gleich bleiben, wurden vom 10. bis zum 18. Jahrhundert immer wieder neue Melodien komponiert.
Gesänge für das Stundengebet
Zum alten Repertoire des Stundengebets wurden im Lauf der Jahrhunderte immer wieder neue Stücke hinzugefügt, sei es, dass neue Feste eingeführt wurden oder der Wunsch aufkam, für bereits bestehende Feste neue Gesänge zu formen. Hierbei kamen verschiedene Kunstmittel zum Einsatz; so hat man oft die Texte in Reimen verfasst.
Memoria - Im Gedenken der Toten
Die Abendmahl- und Eucharistiefeier wurde auch im Gedenken der Toten, zu deren Seelenheil und zur Verehrung der Heiligen und Märtyrer gefeiert. Das Totenoffizium, die Fürbitte für die Verstorbenen, gehörte seit dem 8. Jahrhundert zum Stundengebet der Mönche und Kanoniker. Neben den liturgischen Tagzeiten konnten als Stiftung besondere Seelmessen an Gedenktagen gelesen werden.
Mit zunehmender Zahl der Namen, derer gedacht werden sollte, entwickelten sich Namensverzeichnisse in ganz unterschiedlicher Form. Zu nennen wären hier die Libri Vitae, in denen die Namen der Lebenden und der Toten gesammelt wurden. Gemeint ist damit allerdings weniger eine bestimmte Aufzeichnungsform, sondern vielmehr das "Buch des Lebens" nach biblischem Vorbild, in welchem die von Christus Geretteten aufgenommen werden. Diese Gemeinschaft der Lebenden und Verstorbenen wurde zu einer das Mittelalter bis in die Neuzeit prägenden Form des Gedenkens.
Die Verschriftlichung der Melodie
Die Melodien erlernte man zuerst durch Hören und Nachsingen und musste sie im Gedächtnis bewahren. Um 600 schreibt der Bischof Isidor von Sevilla, der Ton sei ein flüchtiges Phänomen; man könne ihn nicht aufschreiben. Andererseits gab es schon in der Antike Versuche, Melodien schriftlich darzustellen. Zur Aufzeichnung des Chorals kam es, wie die erhaltenen Zeugnisse zeigen, im 9. Jahrhundert und im Frankenreich.
Die ältesten Neumenschriften
Grundlage der Liturgie ist das schriftlich fixierte Wort. Um Liturgie feiern zu können, braucht man Bücher. So kam auch der Choral, der gesungene Teil der Liturgie, zur Verschriftlichung. Die ältesten Aufzeichnungsweisen, viel später Neumen genannt, weist man den beiden berühmten Zentren der Choralpflege, St. Gallen und Metz, zu. Beide Schriftsysteme geben sorgfältig und detailliert Auskunft, wie eine Melodie zu singen sei; welche Töne in ihr aufeinanderfolgen wird jedoch nicht mitgeteilt.
Die Einführung der Notenlinien
Anfang des 11. Jahrhunderts klagte Guido von Arezzo, die Sänger wären mit diesem Lernen überlastet. Man müsse die Melodieverläufe eindeutig aufzeichnen können. Er schlug vor, in alle Gesangbücher eine rote Linie einzuzeichnen, die den Ton f markieren solle (den Ton mit einem Halbton darunter), und dann die Neumen daran auszurichten. 1024 trug er seine Methode dem Papst vor, und dieser behielt, wie Guido stolz berichtet, seine Aufzeichnung so lange in der Hand, bis er eine ihm unbekannte Melodie fehlerfrei abgesungen hatte.
Wenig später kamen weitere Linien im Terzabstand hinzu, und neben f wurde das c (der zweite Ton im System mit einem Halbton darunter) zum Schlüsselbuchstaben. Da die Metzer Neumen eine gewisse vertikale Ausrichtung hatten, wurden sie in das Liniensystem eingepasst. Dabei vergröberten sich im Lauf der Zeit die "Fliegenfüße" zu "Hufnägeln".
Ost- und Westrheinische Choraltraditionen
Grundsätzlich lassen sich zwei Einflusszonen in der Choraltradition unterscheiden, deren Grenze ungefähr der Rhein bildet.
Die ostrheinische (deutsche) Tradition wird in späterer Zeit vor allem mit Metzer Neumen aufgezeichnet, deren Grundform wie ein Rhombus erscheint und die auf Linien gestellt werden; in der westrheinischen Tradition wird die Quadratnotation verwendet. Die Traditionen unterscheiden sich melodisch dadurch, dass in bestimmten Konstellationen im ostrheinischen Bereich eher eine Terz gesungen wird, im westrheinischen Bereich eher ein Halbton.
Mittelalterliche Mehrstimmigkeit
Schon im 9. Jahrhundert wird berichtet, dass man den Choral zur höheren Feierlichkeit mit einem klanglichen „Gewicht“ versehen kann. Jeder Ton wird mit einer Quinte oder einer Quarte „beschwert“, und der Gesang verbreitert sich zu Quint- und Quartparallelen. Die Lehrschrift Musica enchiriadis, in der dieses Verfahren beschrieben wird, war weit verbreitet.
Diese Tradition trat zwar in den Hintergrund, als sich ab 1200 von Paris aus die Kunst einer differenziert auskomponierten Mehrstimmigkeit verbreitete; sie verschwand aber nicht, sondern wurde bis ins 15. Jahrhundert hinein praktiziert. Gelegentlich finden sich Zeugnisse dafür. Ein solches Fragment hat sich in Stuttgart erhalten und wurde jetzt neu entdeckt.