Leid und Unrecht in Behindertenhilfe und Psychiatrien in Baden-Württemberg 1949-1975
Landesarchiv unterstützt mit bundesweit einmaligem Projekt Betroffene und leistet wissenschaftliche Aufarbeitung
Mit dem „Dokumentationsprojekt Zwangsunterbringung“ hat das Landesarchiv Baden-Württemberg seit 2019 für Menschen recherchiert, die in ihrer Kindheit zwischen 1949 und 1975 in Heimen der Behindertenhilfe und in Psychiatrien untergebracht waren. Viele von ihnen haben dort leidvolle und traumatisierende Erfahrungen gemacht. Am Mittwoch (30. März) fand im Hauptstaatsarchiv Stuttgart und online die Abschlusstagung statt. Bei der Veranstaltung wurden die Erkenntnisse aus dem Projekt präsentiert und verschiedene Akteure der Aufarbeitung – Beratung, Wissenschaft, Betroffene, Archive – miteinander ins Gespräch gebracht. Die Tagung wurde vollständig in Deutsche Gebärdensprache übersetzt.
Das von der Baden-Württemberg Stiftung geförderte Projekt hat dokumentiert, dass Kinder und Jugendliche mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen nicht nur unter der „schwarzen Pädagogik“ litten, sondern auch zusätzliche Stigmatisierungen und Erniedrigungen erlebten. Der Blick in die Akten zeigt, dass die Kinder auf ihre – angeblichen – Defizite reduziert wurden. In Einrichtungen der Behindertenhilfe gab es häufig keine angemessene Förderung. Gehörlosen Menschen verbot man zum Beispiel das Gebärden und legte den Schwerpunkt stattdessen auf die Vermittlung der Lautsprache. Auch Zwang und körperliche Gewalt gehörten zum Alltag.
Sozialminister Manne Lucha sagte anlässlich der Abschlussveranstaltung in Stuttgart: „Auch in Baden-Württemberg haben damals zahlreiche Kinder und Jugendliche in Einrichtungen der Behindertenhilfe und in Psychiatrien wiederholt unfassbares Leid und Unrecht erfahren. Auch in unserem Land haben in Kliniken und Einrichtungen massive Missstände geherrscht. Das Dokumentationsprojekt Zwangsunterbringung macht noch einmal deutlich: Wir müssen Kindern und Jugendlichen mehr zuhören, sie stärker beteiligen, ihre Ängste und Sorgen ernst nehmen – und sofort eingreifen, wenn ihnen Unrecht getan wird. Es ist und bleibt wichtig, ganz genau hinzuschauen. Dies gilt vor allem dann, wenn sich Kinder und Jugendliche in Abhängigkeit befinden und verstärkt auf Fürsorge und Unterstützung der Erwachsenen angewiesen sind. Das, was damals passiert ist, darf sich niemals wiederholen. Im Namen der Landesregierung bitte ich alle Betroffenen aufrichtig um Entschuldigung. Allen am Dokumentationsprojekt Mitwirkenden danke ich herzlich für ihr großes Engagement.“
Prof. Dr. Gerald Maier, Präsident des Landesarchivs, betonte die tragende Rolle von Archiven bei der Aufarbeitung von Unrechtskontexten: „Genaue historische Kenntnisse über die Zu- und Missstände in den Einrichtungen, über die Strukturen und die Verantwortlichkeiten sind unerlässlich für eine gesellschaftliche Aufarbeitung. Das Projekt zeigt, wie die Verknüpfung aus Grundlagenforschung, individuellen Recherchen für Betroffene und Vermittlungsarbeit erfolgreich gelingen kann. Seit zehn Jahren unterstützt das Landesarchiv die Aufarbeitung der Themenkomplexe Heimerziehung und Zwangsunterbringung mit seiner Expertise.“
Ein wichtiges Informationsangebot, das im Rahmen des Projekts erarbeitet wurde, ist das Themenmodul „Heimkindheiten“ im Landeskunde-Portal LEO-BW. Das Online-Angebot bietet einen zentralen Zugang zu verschiedenen Aspekten der Heimunterbringung von Kindern und Jugendlichen in der baden-württembergischen Nachkriegszeit. Es informiert unter anderem über Einrichtungsformen, Alltagsleben, Aufarbeitung, historische Hintergründe und lässt Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zu Wort kommen. Die Beiträge richten sich an ein breites Publikum und werden zum Teil in Deutsche Gebärdensprache und in Leichte Sprache übersetzt. Das Themenmodul wird fortlaufend ergänzt.
Dokumentationsprojekt Zwangsunterbringung
Das Dokumentationsprojekt Zwangsunterbringung am Landesarchiv Baden-Württemberg begann 2019 in der Nachfolge des Aufarbeitungsprojekts „Heimerziehung“ (2012-2018) seine Arbeit. Während der dreijährigen Laufzeit unterstützte das Projektteam knapp 190 Betroffene, die Nachweise oder Akten suchten. In enger Zusammenarbeit mit der Anlaufstelle der Stiftung Anerkennung und Hilfe hat das Projekt die regionale Aufarbeitung vorangebracht und die gewonnenen Erkenntnisse der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Dafür wurden zielgruppengerechte Angebote für Betroffene, Angehörige und Einrichtungen entwickelt und umgesetzt. So veranstaltete das Projektteam im Juni 2021 einen gut besuchten Online-Themenabend zu den Erfahrungen in Gehörlosenschulen in der Nachkriegszeit. Eine zweite Säule in der Vermittlungsarbeit bilden Angebote für die eigene historische Forschung. Dazu gehören ein Rechercheratgeber, das Verzeichnis der baden-württembergischen Einrichtungen der Behindertenhilfe und der Psychiatrie sowie das neue Themenmodul „Heimkindheiten“ im Online-Portal LEO-BW des Landesarchivs.
Das Dokumentationsprojekt Zwangsunterbringung wurde von der Baden-Württemberg Stiftung finanziell gefördert.