"Das Rindviech hat mich getroffen"
Ludwigsburg im April 1945. Die Franzosen rücken immer weiter vor. Doch so mancher Soldat gibt den Krieg noch nicht verloren. So auch Paul Knittel (Name von der Redaktion geändert). Er gilt als "alter Kommisskopf", ist treues Mitglied der NSDAP, hat seinen Platz in der SS. 1938 hat Knittel seine oberschwäbische Heimat verlassen und ist nach Ludwigsburg gezogen. Dort wird er in die Eberhard-Ludwig-Kaserne eingezogen. Eine Kompanie Volkssturmsoldaten hat dort ihren Sitz. Knittel - der dem Alkohol nicht abgeneigt ist und als barsch und hart gilt - hat vor allem 17-jährige Jungsoldaten und ältere Männer unter seinem Kommando. 100 Mann hören auf sein Wort. Und zu gerne hätte Knittel die Franzosen wieder über den Rhein gejagt. Doch deren Kompanien schreiten voran.
Am 21. April 1945 bekommt Knittels Kompanie den Auftrag, die Lage zwischen Stammheim und Möglingen zu erkunden. Knittels Truppen ziehen los. Sie passieren die Landstraße und kommen am Gehöft der Brosis vorbei. Knittel hat Durst. Barsch stürmt er ins Haus und findet die Hausherrin mit Gips im Bett. Ein Glas Most wolle er, herrscht er die kranke Frau an. Später erzählt sie ihrem Mann, dass man sich da "aber einen Rechten ins Haus geholt habe". Der ganze Hof wird belagert, von dort sondieren die Soldaten die Lage, halten Ausschau nach den Franzosen, die immer weiter in Richtung Ludwigsburg vorrücken.
Die Lage ist angespannt. Überall haben sich die Soldaten positioniert. Sie haben jeden Hügel im Blick. Auf einmal kommt ein Bauer des Weges. Gemeinsam mit seinem Sohn marschiert Karl Bauch aus Stammheim am Brosi-Hof vorbei. Von zwei Unteroffizieren befragt, ob er wisse, wo die Franzosen stehen, antwortet der Bauer: "Der Franzose ist bereits in Schwieberdingen."
Er sieht das Heer von Soldaten und schreit den Hügel hinauf: "Kämpft doch nicht. Es lohnt sich nicht. Ganz Möglingen ist schon besetzt. Es ist eh vorbei." Die Soldaten recken ihre Köpfe. Bauch redet weiter: "Außerdem sind die Franzosen gar nicht so schlimm. Ich hab gestern mit ein paar von ihnen ein Bier getrunken, das sind ganz nette Leute. Hört doch auf, in der kommenden Nacht ist eh alles vorbei."
Die Worte zerschneiden die Luft, die Soldaten schweigen. Auch Paul Knittels Ohren, der eben zur Haustüre der Brosis herauskommt, vernehmen die Aussage Bauchs. Dinge, die Knittel nicht hören will. Knittel fackelt nicht lange. Er zückt seine Pistole und drückt ab. Karl Bauch blickt ins Dunkel der Nacht. "Mir ist schlecht", sagt er zu seinem Sohn. Er läuft noch einige Schritte, dann stammelt er: "Das Rindviech hat mich getroffen." Bauchs Hemd färbt sich rot, oberhalb des Nabels ist es innerhalb weniger Minuten blutgetränkt.
Der Sohn ruft um Hilfe. Soldaten eilen heran. Sie schleppen den Bauern in ein Futterrübenloch und schicken nach Sanitätern. Knittel würdigt die Szenerie keines Blickes. Er schaut in die Ferne, schließlich könnten die Franzosen auftauchen. Der Verletzte wird in einen Handwagen gelegt. Nach Stammheim zum Arzt bringt man ihn. "Bauchschuss" lautet die Diagnose. Das Robert-Bosch-Krankenhaus ist die nächste Station des Verletzten. Doch die Ärzte können dem Mann nicht mehr helfen. Karl Bauch stirbt am 23. April.
Der Ermordete hatte Recht: Das Kämpfen hatte für Knittels Kompanie keinen Zweck mehr. Die Franzosen marschierten in Ludwigsburg ein. Paul Knittel kommt ins Internierungslager nach Oßweil. Bis 1947 bleibt er dort, dann wird ihm der Prozess gemacht - wegen Mordes an Karl Bauch. Knittel wird zu vier Jahren Haft verurteilt, allerdings werden die zwei Jahre im Internierungslager angerechnet. So ist er im Jahre 1949 wieder ein freier Mann.
Der Artikel wurde am 10. September 2005 in der Ludwigsburger Kreiszeitung veröffentlicht. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung der LKZ.
Akteneinsicht
Die Akte kann im Staatsarchiv Ludwigsburg unter der Signatur EL 51/3 Bü 4 bestellt und eingesehen werden. Der Lesesaal ist unter der Telefonnummer 07141/18-6337 erreichbar.